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Der Abruzzenhund
Mittwoch, 18. Juni 2014 - in Interessantes
Im Mai dieses Jahres bin ich in die Abruzzen gereist. Es war ein toller Wanderurlaub durch ganz vielfältige Landschaftsformen. In den Tälern war es schon sehr heiß, aber oben in den Bergen herrschte teilweise eisige Kälte. Als mein Freund und ich nach einer wahrlich mehr als anstrengenden Tour durch Schnee und Eis das Skigebiet Campo Imperatore erreichten und an der Tür des geschlossenen, nicht gerade vertrauen-erweckenden Hotelbaus standen, von dem die Farbe abblätterte, gab ein Maremma-Abruzzenhund lautstark Alarm. Sein Besitzer, einer der Handwerker, die das Hotel gerade renovierten, konnte ganz gut Englisch, was in diesem Gebiet eine Besonderheit ist. Wir durften – ein typisches Beispiel für die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Abruzzeser - im eigentlich geschlossenen Hotel übernachten, ohne warmes Wasser zwar, aber dafür zu einem Bruchteil des üblichen Preises. Der nette und hilfsbereite Mann gab uns seine Telefonnummer, so dass wir ihn anrufen konnten, damit er uns öffnete, falls wir noch einmal hinausgehen wollten. Dies erwies sich, wie später noch zu erfahren sein wird, als eine sehr gute Idee.
Auch nachts hörten wir das Gebell des Hundes, der draußen schlief. Am nächsten Morgen begrüßte uns jedoch ein uns sehr freundlich gesinnter, verspielter und schmusebedürftiger Abruzzenhund. Von dem Wachhund von gestern, der den beiden Fremden gegenüber so misstrauisch gewesen war, war nichts mehr zu erkennen. Wir waren als Gäste akzeptiert. Er war wirklich von imposanter Statur, mit langem, weißem Fell, einer rosanen Nase und dunklen Augen. Er schien uns wohl ganz nett zu finden, denn als wir die 20 Kilometer lange Wanderung hinunter nach Castel del Monte starteten, lief er selbstbewusst voraus und schien uns den Weg zu zeigen. Während wir anfangs noch dachten, dass der Hund bald umdrehen und wieder zurück zum Campo Imperatore laufen würde, konnten wir nach einigen Stunden immer noch beobachten, wie dieses stattliche Tier uns vorauslief und sich in regelmäßigen Abständen umsah, um sich zu vergewissern, dass wir noch hinter ihm waren. Nie war er aus unserer Sichtweite. Waren wir ihm zu langsam hinterher gekommen, wartete er geduldig bis wir auf einige wenige Meter heran waren und lief dann wieder voraus. Schlugen wir einmal eine etwas andere Richtung ein, weil unser Leithund uns zu weitab von der eigentlichen Wanderroute schien, so blieb er stehen und beobachtete uns aufmerksam. Ob wir es uns nicht doch anders überlegten? Nein? Da kam er, förmlich den Kopf über so viel Unwissenheit und Starrköpfigkeit seiner kleinen Herde schüttelnd (schließlich kannte er doch den besten Weg zum Ziel!), in großem Bogen wieder auf uns zu, überholte die uneinsichtigen Wanderer und lief wieder voran. Er kannte die Gegend sehr genau.
So ging dies den ganzen Tag lang, die Landschaft hatte sich inzwischen gewandelt: Waren wir anfangs noch durch die mit Schneefeldern bestückte Hochgebirgslandschaft gestapft, so wanderten wir nun stundenlang durch eine karge, grünhügelige Gegend, so einsam, dass es nur dieser eine weiße Punkt in weiter Ferne war, der sich bewegte - unser Hund, der unermüdlich voraus lief und sich scheinbar entschieden hatte, seine Zeit mit uns zu verbringen.
Machten wir eine Pause, beobachtete er uns und wartete in einiger Entfernung darauf, dass wir weitergingen. Nur wenn wir ihn lockten kam er näher, ließ sich auch kraulen und zum Spielen auffordern.
Als einmal, noch im Schneegebiet, mein von mir unvorsichtig abgesetzter Rucksack von einer Windboe erfasst wurde und ca 100 Meter den Berg hinab purzelte, sprang er lustig hinterher. Mit einem Fernsehhund Lassie, der den Rucksack wieder hochgeholt hätte, brauchte ich aber freilich nicht zu rechnen. Wir mussten selbst den steilen Hang hinabklettern. Glücklicherweise war mein Rucksack unversehrt geblieben (der Verlust meines Handys, das hierbei verlorenging, blieb verkraftbar).
Stunden später versuchten wir einmal, ihn zu verscheuchen, damit er zurückgehe. Wir machten uns langsam um ihn Sorgen: Auch wenn es uns ehrte, dass er sich entschieden hatte, mit uns zu gehen: Er konnte ja nicht wissen, dass wir nur zeitweise durch diese Gegend wanderten und ansonsten in einer Großstadt wohnten. Er schien unser Zeichen auch genau zu verstehen und lief in die Richtung, aus der wir gekommen waren, wurde stecknadelkopfklein, bald nur noch als kleiner Punkt am Horizont erkennbar. So dachten wir schon, dass er nun zurückgehe, doch er blieb dort am Horizont lange stehen, lief dann oben auf den Hügelkämmen in einem unsagbar weiten Bogen um uns herum, um dann bald wieder hinab und erneut vor uns her zu laufen.
Wir telefonierten mit dem Besitzer, dessen Telefonnummer wir ja zum Glück dabei hatten. Dieser blieb bei der Nachricht, dass sein Hund mit uns gegangen war, äußerst entspannt und meinte, dass wir ihn einfach lassen sollten. Es sei seine Entscheidung, ob er bei uns bleiben wolle oder zurückkommen werde. Dieser Gleichmut verblüffte und beeindruckte mich zugleich, bin ich es doch gewohnt, mit Hundebesitzern konfrontiert zu sein, die sich Sorgen darüber machen, ob ihr Hund zum Beispiel die Hitze verträgt, genug trinkt, sich beim Toben verausgabt, ohne Leine auf die Straße läuft usw. usw. Die Abruzzeser kennen ihre selbstbewussten Hirtenhunde, die die Schafsherden bewachen, eigenständig Entscheidungen treffen können und auch allein zurecht kommen. Was aber, wenn dieser Hund nun die Entscheidung getroffen hatte, auch weiterhin bei uns zu bleiben? Wir konnten ihn nicht mitnehmen, er passte nicht nach Hamburg! Er brauchte die Weite der Hochplateaus, auf denen er sich frei bewegen konnte. Solch einen Auslauf hätten wir ihm zuhause niemals bieten können.
Ca 2 Kilometer von Castel del Monte entfernt blieb der Hund auf einmal stehen und sah uns nach. Warum dieses plötzliche Zögern? Wir gingen weiter, er stand weiterhin bewegungslos da. Nach einer Biegung war er dann nicht mehr zu sehen. Hatte er kehrtgemacht? Wir mochten gar nicht mehr daran glauben, hatte er uns doch den ganzen Tag schon begleitet. Aber er war zurück geblieben. Oder doch nicht? Da stand er auf einmal wieder schräg vor uns, auf der Weide seitlich des Weges! Wie, zum Teufel, hatte er das gemacht? Wir hatten ihn uns nicht überholen sehen. Er musste in einer ungeheuren Geschwindigkeit durch den Wald gelaufen sein, der in einiger Entfernung entlang des Hanges parallel unseres Weges verlief. Ungläubig starrten wir diesen Hund an, der auf einmal zu bellen begann. Mehrere Hunde antworteten. Dort tauchten sie auf, die Wachhunde am Ortseingang, und alles waren Abruzzenhunde. Es war gar nicht unser Hund gewesen! Nun erkannten wir auch den Grund für sein Zurückbleiben: Er hatte die anderen natürlich schon längst gewittert und wollte ihnen nicht begegnen. Schweren Herzens aber auch erleichtert stellten wir fest, dass uns unser Hund hier tatsächlich nicht länger begleiten würde. Er hatte seine Aufgabe erfüllt und seine Herde in den sicheren Hafen gebracht. Ich dankte ihm dafür. Wie wir am darauf folgenden Tag von seinem Besitzer erfuhren, war er am nächsten Morgen wieder am Hotel des Campo Imperatore aufgetaucht. Er war also nachts den gesamten Weg wieder zurückgelaufen. Unsere Wanderroute war 20 Kilometer lang gewesen. Da er kurz vor der Stadt zurückgelaufen war, schätzten wir seine Wegstrecke auf ca. 18 Kilometer, diese allerdings durch viele Umwege und Abweichungen verlängert (unser Verscheuchungsversuch, seine Abzweigungen von der eigentlichen Route und die Wiederumkehr usw.), so dass es doch deutlich mehr gewesen sein mussten. Diese Strecke hatte er also zwei Mal hintereinander zurückgelegt. Ob er unterwegs etwas gegessen hatte, wissen wir nicht, aber während er mit uns zusammen war, tat er es nicht. Einzig und allein trank er Wasser aus einem kleinen Bergsee.
Eines ist mir völlig klar geworden: Solche Hunde gehören einfach nicht nach Deutschland und am wenigsten in eine Großstadt! Ihr Auslaufgebiet ist die Weite der Abruzzen, sie können sich nicht wohlfühlen, wenn sie sich auf zweistündige Gassigänge beschränken und ansonsten womöglich in einer Hamburger Stadtwohnung und ohne eine Aufgabe ihre Zeit verbringen müssen.
Der Zufall wollte es so, dass ich gerade neulich zum ersten Mal einen Abruzzenhund an der Außenalster sah. Er ging an der Leine seines Herrchens, mit eingezogener Rute, ein riesiges Tier aber etwas mager, vorsichtig dahinstapfend, die Blicke nervös überall hin werfend. Die Menschen waren am Grillen, es war rappelvoll. Und mitten darin dieser Abruzzenhund, dieses eindrucksvolle Tier, das hier absolut nicht hingehörte, dem die Gebirgslandschaft fehlte und eine Aufgabe. Wie kann man hier einem Tier gerecht werden, das eine Strecke von deutlich mehr als 18 Kilometern 2 Mal hintereinander zurücklegt?
Diesen Tag, als ein Abruzzenhund uns aus freiem Willen begleitete, werden wir nie vergessen und ich sehe es als ein ganz großes persönliches Geschenk dieses Hundes an uns an.
Freude im Schnee
Streicheleinheit
Ob er gerade darüber nachdenkt, mit uns zu kommen? :-)
Kommunikation
Der Hund weist uns die Richtung
Warten auf die langsame Herde
Kommen sie schon?
Kurz bevor mein Rucksack hinabfiel. Aber das Bild war es wert! ;-)
Mein Versuch, ihn mit etwas Zwieback zu füttern, schlug fehl: Er spuckte ihn wieder aus. Nein, auf unseren Proviant war er wirklich nicht scharf.
1 Kommentar zu "Der Abruzzenhund"
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27. Oktober 2017 16:58 Uhr